Der 20-jährige Bulle

Nach zwei Stunden Schlaf in den Uinta Mountains im Norden von Utah bin ich noch nicht ganz bei mir. Mit jedem Brunftschrei, den ich durch Aspen widerhallen höre, wird klarer, dass dieser Bulle näher kommt. Mein Bergführer Cheeto hört auf zu flüstern und wechselt in den Kommunikationsmodus „nur mit den Augen“. Mit seinen Augen, da bin ich mir ziemlich sicher, hat er mir gerade gesagt: „Pack dein Zeug zusammen, denn jetzt wird es brenzlig!“

Vor fast zwei Jahrzehnten habe ich meinen ersten Bullenelch beim Speerfischen in einem kristallklaren Tangwald im Pazifik gesehen. Ich hatte gerade einen riesigen Calico-Barsch verpasst und kam an die Oberfläche, um meine Waffe zurückzusetzen, als ich die Bewegung aus meinen Augenwinkeln entlang der felsigen Klippe sah, die über der Küste emporragte. Santa Rosa Island liegt 48 Kilometer vor der Küste Kaliforniens und war 100 Jahre lang eine familiengeführte Vieh- und Schaffarm. Vor etwa 80 Jahren brachten die Ranchbesitzer Roosevelt-Elche und Kaibab-Maultierhirsche auf die Insel. Dieser Bulle war wahrscheinlich 90 Meter entfernt, aber perfekt im Abendlicht zu sehen. Ich schwamm gerade dort, als er die Kammlinie entlang ging, und ich versprach mir, eines Tages zurückzukommen, um den Elch der Insel Santa Rosa zu jagen.

Saison für Saison verging und ich dachte oft an eine Elchjagd auf Santa Rosa Island. Ich entschied mich, mir diese für die Zeit aufzuheben, wenn meine Kinder älter sind und die Schule abgeschlossen haben. Der National Park Service hatte 1986 die Santa Rosa Islands von der widerwilligen Rancher-Familie erworben, die es ein Jahrhundert lang besessen und verwaltet hatte. Ein Teil der Vereinbarung war, dass bis 2012 weiter gejagt werden konnte. Nun dachten wir alle, dass die Regierung die Jagd auf der Insel übernehmen würde und dass es sogar billiger werden könnte. In jedem Fall war ich zuversichtlich, dass sich alles finden würde und dass ich eines Tages diese Inseljagd erleben würde. Vielleicht sogar mit einem meiner Kinder oder Enkelkinder? Schließlich kam die Nachricht, dass die Parkverwaltung keine Pläne hatte, die Programme in Bezug auf die Jagd auf der Insel abzuschaffen oder zu ändern. Sie wollten, dass die Elche und Hirsche verschwinden. In den Wochen vor dem 1. Januar 2012 wurde jeder Elch und jeder einzelne Hirsch getötet. Mein Traum, einen Elch auf Santa Rosa Island zu erlegen, war für immer verloren.

Ich habe eine Patrone in die Kammer gesteckt, mich so gut wie möglich vorbereitet und einen letzten Blick auf Cheeto geworfen. Ich schaue ihm zu, wie er langsam sein Fernglas fallen lässt und einen festen Blick auf ein Ziel direkt vor uns richtet. Seine Arbeit ist jetzt erledigt. Ich folge seinem Blick und erkenne sofort, warum er nicht mehr durch das Fernglas sieht – das braucht er gar nicht mehr. Der Bulle kommt hinter den Bäumen breitflächig auf eine kleine grasbewachsene Fläche hervor, die nicht mehr als 45 Meter entfernt ist. Alle meine Sinne, abgesehen von den Augen, verschwinden und ich bin hochkonzentriert. Dieser Bulle sieht genauso aus wie die Tiere in meinen Tagträumen, die ich jahrelang über Elche hatte, nur viel größer.

Der Bulle schlendert ,vorsichtig in die Mitte der grasbewachsenen Fläche und bleibt stehen. Ich habe wieder den ersten Elch, den ich aus den Tangwäldern von Santa Rosa Island vor fast 20 Jahren je gesehen habe, vor Augen. Ich atme aus und drücke ab.

Cheeto gibt mir etwas Zeit allein mit meinem Bullen. Ich denke an meine Wertschätzung für dieses Tier und auch für die visionären Menschen in den Uintas, die seit Jahrzehnten daran arbeiten, eine Region zu schützen, in der die Umwelt, Freizeit, Viehzucht, Landwirtschaft, Fischen und Jagen gemeinsam wachsen können. Aufgrund von Menschen wie ihnen werde ich, ebenso wie meine Kinder und Enkelkinder, einen Ort haben, an dem man Elche für die kommenden Generationen erleben kann. Die Sonne ist untergegangen und hier gibt es noch viel zu tun. Obwohl meine Kinder nur das Glück hatten, das von Freunden mitgebrachte Elchfleisch zu probieren, ist es ihr Lieblingsfleisch. Ich höre bereits die Aufregung in ihren Stimmen, wenn ich sie morgen anrufen werde, um ihnen zu sagen, dass wir den ganzen Winter über Elchfleisch essen dürfen.